Kranke Geschichten – Strange Stories

Hier findest du kurze und längere Erlebnisse, die mir am Weg mit dem lieben Herrn Crohn begegnet sind. Es sind heitere, melancholisch, sarkastische und fallweise auch philosophische Geschichten, die nicht die Krankheit im Mittelpunkt haben. Es menschelt eben auch im Krankenhaus, am Krankenbett, beim Arztbesuch und überall da, wo man sich so lange aufhält, dass man (=ich) seine Mitmenschen beobachten kann.

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Schräge G´schichten: Das mürbe Kipferl der Auferstehung

Die dritte schräge G´schicht in der Kategorie „… aber das ist eine andere Geschichteund zugleich die Skizzen 7-9 für die#30SkizzenimNovember, einer Zeichenaktion der Freiraumfrau . Ich weiß, ich bin einen Tag zu spät mit dieser geschriebenen „Skizze“. Aber besser spät als gar nicht 😉
Alles Skizzen, meine und die von anderen, findet ihr auch auf Instagram, Facebook oder Twitter unter dem Hashtag #30SkizzenimNovember folgen, meiner ist zusätzlich #schrägeGschichten.

30 Skizzen = 10 schräge Geschichten – Nr. 3:

Das mürbe Kipferl der Auferstehung

Sie liegt in ihrem Bett, so gut wie bewegungslos. Mehrmals am Tag kommen die Schwestern, um sie zu „mobilisieren“. Dann wird sie in eine andere Liegelage gebracht, das Kopfende höher oder tiefer gestellt und an ganz besonders guten Tagen setzt man sie schon mal in den Stuhl, damit sie die Lage der Welt aus halbwegs aufrechter Position wahrnehmen könnte. Ob sie es tut, weiß keiner.
Jede Nacht sägt sie halb Canada um, mit schwerem Gerät – zumindest klingt es so.
Tagsüber und zwischen den Schnarchattacken wird ihre Matraze unregelmäßig und halbrhythmisch bepumpt, damit sie es halbwegs bequem hat. Tagsüber ist das ein leidlich angenehmes Geräusch, das sanft einschläfernd wirkt. Nachts nervt es tierisch.
Also mich, nicht sie.
Ich habe mein Bett einen Platz weiter und kenne nun die Schnarchlautgrenze meiner Ohrenstöpsel. Sie liegt neben mir.

Meine Gefühle ihr gegenüber sind tagsüber sanft, nächtens am Limit, in Summe herrscht bedauerndes Mitgefühl vor. Wir haben unterschiedliche Ziele. Meines heißt soweit fit zu werden, dass die neue Therapie beginnen kann und ich hier bald rauskomme.
Ihres geht in die andere Richtung.

Hin und wieder spricht sie. Nicht mit mir und wenn, dann sieht sie wen anderen in mir. Auch ihre Besucher nehmen andere Gestalten in ihrer Sicht ein. Das macht das Kommunizieren schwierig und gibt ungewollt tiefere Einblicke in ihr Leben und Leiden, als es mir, einer quasi Außenstehenden, zustehen würde zu wissen.
Aber wir sind hier im Krankenhaus, da herrschen andere gesellschaftliche Normen und die erste Regel des Fight Club: Was hier passiert, bleibt hier.

So liegen wir Tag für Tag, jede in ihrem Bett. Sie wird bewegt, ich kanns selber und nutze das, um tagsüber mein Gesichtsfeld zu wechseln und mir in besonders intensiven Holzfällernächten eine ruhige Bleibe im großen Krankenhaus zu suchen. Die Onkologieambulanz ist mein Geheimtipp. Da gibt es leidlich bequeme Sitzbänke, kein Mensch weit und breit und das Licht ist nicht zu grell. Mit meinem Polster unterm Arm finde ich hier 2-3 Stunden Ruhe. Die Nachtschwestern verstehens und lassen mich ziehen, bedauernd, denn da, wo ich hingehe, ist es still und friedlich. Sie haben keine solche Nacht auf der 1. Internen.

Die tägliche Routine sieht vor, dass die Schwestern am Morgen denen, die nicht mehr gehfähig sind, das Frühstück ans Bett bringen. Ein kleiner Wagen mit allem, was man hier so kredenzt, wird hereingeschoben, die Bestell-Dialoge gleichen sich und sind die wenigen Gespräche, wo meine canadische Prinzessin, wie ich sie für mich nenne, wirklich voll und ganz da ist. Denn die Frage nach dem gewünschten Frühstücksgebäck wird ohne zögern beantwortet.
Das Teil wird geschnitten, bebuttert, mal mit, mal ohne Marmelade versehen. Der milde Kaffee wird in ein Schnabelhäferl gefüllt und täglich gibt es den Versuch, sie alleine essen zu lassen. Was täglich dazu führt, dass sie eine Stunde später kalten Kaffee gefüttert bekommt.

Mein Frühstück hole ich mir selbst, aus dem Spezialeck, wo die glutenfreien, laktosefreien, geschmacksneutralen Seltsamkeiten aufbewahrt werden. Gebäck, dass den Namen nicht verdient und für das man drei Hände zum Essen braucht: eine, um das Teil zum Mund zu führen, und zwei, um sich die Ohren zuzuhalten, damit es beim Kauen nicht rausstaubt.
Immerhin gibt es genug Tee, womit man alles in die Richtung spült, aus der es crohnbedingt kurze Zeit später wieder weiterwandert.

Bei diesem morgendlichem Ritual schließen die Prinzessin und ich täglich stillschweigend Frieden für all das, was Nächtens passiert ist. Ich verzeihe ihr die Fällarbeiten, sie hat weiterhin keine Ahnung wer ich bin und hält mich für eine ihrer Töchter. Was an manchen Tagen nett ist.
Still und friedlich mümmeln wir aktiv (ich) und passiv (sie) an unserem Frühstück. Tagein, tagaus die gleiche Prozedur.

Bis zu dem Tag, wo der Supergau eintritt: Es wurden zuwenig Mürbteigkipferl geliefert. Dieses traditionelle Gebäck, das in deutschen Landen nur sehr unzulänglich übersetzt als „Hörnchen“ betitelt wird, ist der Anker, der die Langzeit-PatientInnen auf der Station ruhig hält und ihnen hilft, die Lage hier zu überstehen. Man hält viel aus, wenn man weiß, dass man am nächsten Tag sein resch-mürbes Kipferl kredenzt bekommt.

Doch an diesem schlimmen Tag gibt es zuwenig Durchhaltehörnchen und die Schwestern wissen es. Und sie wissen, dass es zu einer Revolte kommen kann, nein: WIRD! Ich bin mir sicher, sie haben einen roten Knopf in der Station, mit direkter Leitung zum nächsten Bäcker, der sofort den Ofen anschmeißt und mit herkulischer Anstrengung das Unmögliche zu vollbringen versucht: die fehlenden Kipferl in Rekordzeit zu produzieren, ehe Krücken, Rollatoren und Bettpfannen fliegen.

Ich wusste nichts von all dem. Mein bröseliges Frühstück liegt vor mir, eine traurige Reiswaffel, die sich am Ende ihres Seins deutlich mehr Freude verdient hatte, als ich bereit war zu geben.

Der Frühstückswagen wird sanft herangeschoben, die Schwestern betreten den Raum – anders als sonst, vorsichtig, die Lage mit jedem Schritt sondierend. Die Spannung ist spürbar: Alarmbereitschaft. Eine schlimme Botschaft musste zugestellt werden und die Botinnen wissen, dass sie mit Kollateralschäden rechnen müssen.
Gute Morgen Prinzessin! Wie geht´s uns denn heute, gut geschlafen? Na, heut schaun wir aber viel besser aus, so frisch und rosig …“ Der Singsang, die Worte, der Auftritt: alles strahlt Beruhigung, Harmonie, Sonnenschein aus. Falsch, ganz falsch. Denn damit werden lang nicht genutzte Synapsen geweckt, die misstrauisch schnüffelnd registrieren, dass Angst den Raum betreten hat, das etwas in der Luft liegt, das man versucht etwas zu verbergen.
Heut hamma besonders frische Semmerl bekommen oder wollens lieber mal einen Kornspitz? Mit Butter? Und Marmelade …?
Die Semmel in der Hand, das Brotmesser gezückt, der Kaffee (vom Geruch her heute vieeel besser – ein Friedensangebot?) ist eingeschenkt, die beiden Schwestern stehen erwartungsfroh am Bett der Prinzessin und schon bewegt sich die Messerhand zur Semmel …

„Kipferl. Ich will mein Kipferl. Wie immer.

Die Hölle friert zu, die Schwestern vibrieren … „Ja, also, … heut hamma leider zuwenige bekommen. Aber morgen wieder. Schauens, so eine schöne frische Semmel ..
Kipferl.“
„…. ja, aber …“
KIPFERL!
„… äh …“

Und nun passiert das Unglaubliche, nicht Vorstellbare: eine mumiengleiche Hand erhebt sich, greift den Haltegriff am „Galgen“, eine andere stützt sich auf der Matraze auf, der Kopf hebt sich, der ganze Oberkörper hebt sich – *die Prinzessin richtet sich auf.* Der Kopf ist hoch erhoben, der Blick klar, das Gesicht eisig, die Brauen gerunzelt und der folgende Schrei erschüttert die Station bis ins Mark:

„K.I.P.F.EEEEEEEEEE.R.L!!!“

Kipferl 2 - Schräge G´schichten: Das mürbe Kipferl der Auferstehung

Die Schwestern flüchten in verschiedene Richtungen, eine andere betritt den Raum, versucht die Lage zu deeskalieren, der Notfallplan wird aktiviert – im Geist sehe ich ein rotes Licht in der Backstube leuchten.
Man würde sofort auf den anderen Stationen anrufen, ob die noch Kipferl hätten und bitte, nicht aufregen, man tue alles, damit man das Mürbgebäck auftreibt. Eine Schwester ist schon am Weg zur nahen Bäckerei. Eine andere hängt am Telefon, die dritte ist auf Verdacht in die Nachbarstation eingedrungen, um dort mal schnell eines „zu borgen“ …

Die Prinzessin ist wach, voll da, die eine Hand am Galgen, die andere stützt den mageren Körper, der Blick geht zwischen der Beruhigungsschwester und der Tür hin und her und es ist klar: wenn das versprochene Kipferl nicht in den nächsten Minuten durch die Tür kommt, wird sie aufstehen und dafür sorgen, dass viele Menschen diesen Tag in schlechter Erinnerung behalten werden. Es wird Krieg geben, die Apokalypse wiehert in den Startlöchern. Ich höre den Wind am Fenster rütteln, verfluche meine Entscheidung das Bett beim Fenster zu nehmen, denn damit bin ich weit weg von der Tür, kein Fluchtweg.
Verdammt, auch durchs Fenster keine Chance. Denn ein Sprung aus dem der dritten Stock würde nur in die Notaufnahme führen, was angesichts der Lage nicht sicher oder weit weg genug von hier wäre.
Ich mache mich klein, verkriech mich in meinem Eck, unter der Decke, werde soweit als möglich unsichtbar. Meine Reiswaffel zittert, will mit mir fliehen und wir klammern uns händeringend (also ich sie würgend) aneinander.

Schon sehe ich, wie sich die Hand der Prinzessin löst um die Bettdecke zurückzuschlagen. Die Füße erinnern sich an vor langer Zeit geführte Schlachten und zucken, um sich dieser neuen Herausforderung zu stellen, wollen aufstehen … die Schwester hat sichtlich Angst, die Hände sind erhoben, beschwichtigend nach vorne gestreckt: „Alles gut, ich bin sicher, wir haben gleich ein wunderschönes Kipferl für Sie. Bitte regen Sie sich nicht auf, wir sind wirklich bemüht, alle tun ihr Bestes. Bleiben Sie bitte liegen …
Ich kann ihre Angst hören, man riecht es, auch die Prinzessin spürt es und weiß, das sind nur Beruhigungsfloskeln. Der Blick wird hart, die Hand entschlossen und ich spüre, wie ein Wimmern in meiner Kehle hochsteigt.

In diesem Moment stürzt die kleine rothaarige Praktikantin herein, vollkommen aufgelöst, eine Winterjacke über der Uniform, die Haare stehen wirr in alle Richtungen, aber in der Hand – IN IHRER HOCH ERHOBENEN HAND! – hat sie ein Kipferl. Ein wunderschönes, frisches, goldbraunes Mürbteigkipferl.

Auf-der-drüberen-Station-hams-no-eins-ghabt-i-bin-so-schnell-wie-möglich ...“ weiter kommt sie nicht. Das Kipferl wird ihr aus der Hand gerissen, plötzlich sind drei Leute auf einmal da, zusätzlich ein großer, starker Pfleger (von der Männerabteilung ausgeborgt, für schwere Fälle). Es wird geschnitten, geschmiert und in Null-Komma-Nix liegt das bebutterte, mit Marmelade versehene Kipferl auf einer rosa Serviette bereit. Die Prinzessin hat ihre Position nicht verändert, der stählerne Blick beobachtet die hektische Aktion. Gnadenlos.

Erst als die netteste und jüngste Schwester sich ihr zitternd mit dem Teller nähert, entspannt sie sich ein bisschen. Den Teller nach vorn gestreckt, kommt die kleine Schwester näher und sagt sanft „Schauns, da ist es ja schon, ganz frisch, extra für Sie. Alles ist gut …„. Die Augen der Prinzessin senken sich, erblicken das Kipferl. Das Gesicht entspannt sich, der Rücken wird wieder rund, die Hand lässt los und in Zeitlupe versinkt die Apokalypse wieder in ihrer Lethargie.
Das Kipferl ist da.
Die Welt ist gerettet.
Zumindest für heute.

Ich wage mich unter meiner Decker heraus. Die Reiswaffel habe ich vor Anspannung zerbröselt.
Ich atme langsam aus, die restliche Station mit mir. Heute gibts nur Tee zum Frühstück und Brösel im Bett.
Das Kipferldrama ist vorbei.

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Schräge G´schichten: Frau Doktor der dunklen Strümpfe

Die zweite schräge G´schicht in der Kategorie „… aber das ist eine andere Geschichteund zugleich die Skizzen 3-6 für die#30SkizzenimNovember, einer Zeichenaktion der Freiraumfrau .

Es geht ums Dranbleiben, ums tägliche Zeichnen, Malen, Skizzieren. Ich habe für mich das Format „2 Zeichnungen + 1 Geschichte“ gewählt. Weil man ja auch mit Worten Bilder zeigen kann. Wen es interessiert: einfach auf Instagram, Facebook oder Twitter dem Hashtag #30SkizzenimNovember folgen, meiner ist zusätzlich #schrägeGschichten.

30 Skizzen = 10 schräge Geschichten – Nr. 2:

Frau Doktor der dunklen Strümpfe

„Sie ist eine wirklich tolle Ärztin, eine hervorragende Diagnostikerin. Ein bisschen harsch im Ton, sehr direkt. Aber du bist bei ihr in guten Händen, sie wird dir helfen können.“
„Fein, vielen Dank für den Kontakt.“

„Ja und … äh, also wenn du bei ihr bist, dann schau bitte, ob sie dunkle Strümpfe trägt.“
„… ?“

„Weil das tut sie immer, dunkelgrau oder schwarz. Ist nicht nur mir aufgefallen. Haben mir auch schon andere erzählt, die ich hingeschickt habe. Ein einziges Mal, als mein Freund bei ihr Kontrolle hatte, hat sie helle getragen. Da war er so perplex, dass er sie darauf angesprochen hat.“
„… Aha?“

„Sie hat nur schallend gelacht. Also bitte, wenn du Termin hast, dann achte darauf.“
„… ja …ok, mach ich.“

„Nur wegen der Statistik, gell :)“
“ … ohkäh.“

Ich rufe an, bekomme meinen Termin so schnell wie erwartet (der übliche Wahlärztebonus, je teurer, desto flotter) und bereite mich darauf vor. Befunde und so sind sortiert und griffbereit. Ich bereite mich mental vor: Wie werfe ich einen beiläufig investigativen Blick auf die möglicherweise dunkel bestrumpften Beine der Frau Doktor? Wenn sie einen Rock trägt, ist das kein Problem und sofort ersichtlich. Aber bei einer Hose? Vielleicht mit Sportschuhen? Da kann es schwierig werden. Ich könnte was fallen lassen, mich bücken und himmelwärts, Richtung Knöchel, blinzeln. Oder mir die Schuhe im Knien zubinden. Da muss ich aber auch enstprechende Schuhe anziehen, mit Schlüpfern sieht das seltsam aus und könnte meiner Diagnose eine andere Wendung geben.

Ich plane also, richte mir die passenden Schuhe her, trainiere am Weg zur Ärztin auf der Straße, im Bus und in der Tram, den investigativen Sockenerkennungsblick und erlebe spannende Einblicke in menschliche Bereiche, die vermutlich außer mir nur der oder die Socken-StrumpfträgerIn so gehabt hat. Es ist Ende des Sommers, noch immer relativ warm und die Strumpfdichte ist entsprechend gering. Aber das, was man sieht, rangiert zwischen kaum sichtbar und „schreckliche Hautkrankheit“. Bei den Socken und Sneackers sieht es besser aus – also von der Tragedichte her. Rein optisch ist noch Luft nach oben und ich beginne mich langsam um mein eigenes Sockenerscheinungsbild zu sorgen. Heute sind sie oft-gewaschen-weiß, mit einem zart-rosa, ehemals leuchtend pinken Logo am Bündchen. Es sind liebgewonnene Sneackersocken, alt in Sockenjahren und noch immer sehr robust. Sie halten sich aufrecht, auch an langen Tagen und wandern deswegen oft mit mir durchs Leben.

Endlich bei der Ordi angekommen, merke ich, dass ich mehr als üblich aufgeregt bin. Ich habe ja Routine mit Erstordinationen, aber die heutige hat eine besondere Komponente. Vielleicht bin ich aber auch nur zu rasch den Hügel hinauf gestapft und habe deshalb leicht erhöhtes Herzklopfen.

Die beiden Damen bei der Anmeldung sind stoisch routiniert, mit weißen Socken in bequemen Pantoffeln. Ich nehme Platz und warte. Gehört habe ich Frau Doktor schon, gesehen noch nicht. Das Warten ist bequem, der Sessel gemütlich und langsam beginne ich in ihm zu versacken … kurz vorm Einchillen wird mein Name gerufen – Frau Doktor ist bereit für mich und wartet bereits in der Tür. Ich blicke erschreckt auf und ehe ich meinen Blick wieder pflichtschuldig in Fußnähe absenken kann, dreht sie sich um, mir bedeutend ihr zu folgen.

Sie trägt eine lange Hose und ist schnell aus  meinem Blickfeld verschwunden. Zu schnell. Ich springe auf, schnappe meine Tasche mit den Befunden, richte meine Brille (Kurzsichtigkeit ist ein Handicap beim externen Sockensichten) und haste hinterher.

Sie erwartet mich an der Tür zu ihrer Ordination, reicht mir die Hand und ich habe zum Glück eine freie zur Verfügung, um ihr meine zurückreichen zu können. Und dann, als sie sich schon wieder umdrehen will, um zum Schreibtisch zu gehen, kann ich endlich einen Blick auf ihr Fußwerk werfen.

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Die Füße sind nackt.
Sockenlos, strumpflos.
Nackt. NACKT!
Mit roten Zehennägeln, in weißen Birkenstocks.

Ich schnappe hörbar nach Luft, höre bereits den mentalen Aufschrei derer, die auf meinen ärztlichen Fußbericht warten und sich vor Erschütterung nimmer einkriegen werden. Ich spüre ein heftiges Kichern in mir, ein beginnender Lachkrampf, und kann einen sehr breiten Grinser und ein belustigtes Schnauben nicht unterdrücken. Frau Doktor dreht sich zu mir, hebt irritiert die Braue und blickt mich fragend-streng an. Mit aller Kraft würge ich mein Kichern bauchwärts, zwinge mein Gesicht Richtung angebrachter Contennance und versuche meine übliche Patientenrede zur Begrüßung. Die Worte kommen so, als würde ein Frosch versuchen eine Arie zusingen: halb gequackt, halb gekrächzt. Dazu eine leicht breitmaulfroschige Grimmasse und sanfte Lachtränen in den Augen.

Ich hatte schon bessere Erstordinationen. 

Aber ich hatte noch nie so ein dringendes Bedürfnis, eine SMS in Richtung meines wartenden Freundes zu schreiben, der gemeinsam mit anderen Interessierte auf das Ergebnis meines Arztbesuches wartete:

„KEINE Strümpfe!!!
Ich wiederholen: KEINE Strümpfe!
Nicht hell, nicht dunkel, die Füße sind NACKT!
In weißen Latschen!“

Der ärztliche Befund war übrigens ok.
Nichts besonderes, alles gut.

Die wirklich wichtige Frage konnte hingegen nicht geklärt werden:
Wo sind die Strümpfe hingekommen? Und warum?

Cartoons, Kranke Geschichten - Strange Stories

Schräge G´schichten: Das ungeklärte Mysterium der orangen Ananas-Socken

Es gibt eine neue Kategorie im Blog: Kranke Geschichten – Strange Stories. Hier sammle ich kurze und längere Erlebnisse, die mir am Weg mit dem lieben Herrn Crohn begegnet sind. Der Beginn hier ist zugleich auch der Start der #30SkizzenimNovember, einer Zeichenaktion der Freiraumfrau (Angelika Bungert-Stüttgen), die um diese Zeit Interessierte zum Malen, Zeichnen, Skizzieren aufruft. Die Aktion läuft hauptsächlich auf Instagram, einfach dem Hashtag #30SkizzenimNovember folgen, meiner ist zusätzlich #schrägeGschichten.

Man kann nach eigenen Themen mitmachen oder Angelikas Vorschläge nutzen. Ich habe mich heuer dafür entschieden, meine „anderen“ Geschichten zu verzeichnen und beschreiben. Jeweils zwei Zeichnungen und eine Erzählung (weil man ja auch mit Worten etwas darstellen, in die Vorstellung zeichnen kann). Das sind dann Ende November 2019 (hoffentlich) insgesamt 10 ganze Geschichten.

Die Erlebnisse sind aus den letzten Jahren, einige liegen schon länger zurück, einige sind noch sehr frisch. Den Anfang machen bunte Socken, die mich fasziniert, begeistert und vor allem dazu motiviert haben, diese Geschichtenreihe zu beginnen.

30 Skizzen, 10 schräge Geschichten – Nr. 1:

Das ungeklärte Mysterium der orangen Ananassocken

Blass und hager, bekleidet mit dem unsäglich häßlichen Krankenhaushemd, das perfekte Modell für das Sinnbild eines leidenden Kranken, wandelt er gemessenen Schrittes durch den Flur. Manche Schritte tun sichtlich weh und es kostet ihn Kraft bis zum Endes des Ganges durchzuhalten. Er geht dennoch – trotzig, gefasst und tapfer. Am Ende dreht er um, die Hände am Rücken verschränkt, retour ans andere Ende. Wie ein Bahnenschwimmer, der sein Becken verloren hat und nun am Trockenen seine Runden abarbeiten muss. 

Er wandert den Flur auf und ab, mit mehr Kraft, als seine Erscheinung vermuten lässt.
Er geht langsam, stetig und immer allein, äußerlich schwach, innerlich zuversichtlich.
Mit dunklen Ringen unter den Augen, einem traurigem Zug um den Mund, wenig Zukunft in seinem Schatten.
Aber er geht. 

Und zu seinen braunen Birkenstock-Latschen trägt kreischorange Socken, mit lachend gelben Ananansmotiven.
Er ist mein Held des Tages.
Seine Sockenwahl versichert mir, dass er es überleben wird.
Was auch immer „es“ ist. 

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Aber vielleicht sind es in Wahrheit ja die Ananassocken, die gehen wollen? Ihn dazu zwingen, ihn aufrechthalten und Kraft zum Leben, zum Gehen geben? Möglicherweise sind es ja Supersocken, aus einem Geheimlabor oder einem Paralleluniversum, dazu da um Sonnenschein, Glück und einen Hauch Genesung zu verbreiten? Oder die Kontrolle über schwache Menschen zu übernehmen, um die Lage für eine zukünftige Weltherrschaft auszukundschaften: Die Regentschaft der kreischorangen Pinapple-Socks. 

Nachdenklich betrachte ich meine eigenen Socken: rosa-weiß, mit etwas türkis und großen Einhörnern. Jede Socke ist anders, es gibt keine zwei gleichen, nicht wie bei den Ananassocken. Vielleicht stehe ich ja unter ihrer Kuratel, bin Teil des Einhornuniversum?
Und diese Begegnung am kranken Hausflur war die Schnittstelle zum Pinapple-Universum. Weil es im Flur des Krankenhauses nicht so schnell auffällt, wenn sich die Schleier zwischen den Paralleluniversen öffnen. Hier gibt es ohnehin schon genug Seltsamkeiten, über die man sich nicht mehr wundert.

Vielleicht liegt es aber auch daran, dass ich übernächtigt bin, erschöpft und vor allem Hunger habe, weil ich nüchtern sein soll und meine krausen Gedanken mich für den Kalorienentzug auf ihre phantasievolle Art trösten wollen. 

Wer weiß das schon.

Vielleicht der alte Mann mit seinen mutigen Socken, der mir vormacht, wie man zu gehen hat: Aufrecht und mit Würde, egal wie die Füße gekleidet sind, wie beschissen die Lage ist, wie schwer der Tag. Er geht tapfer, er geht aufrecht, er geht immer weiter.
Zumindest bis zum Ende des Flures.

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