Schräge G´schichten: Der rostige Heiligenschein
Ich hab Verspätung – meine sechste schräge G´schicht in der Kategorie … aber das ist eine andere Geschichte, inkl. dazugehöriger Zeichnungen für die#30SkizzenimNovember, kommt nach einer kurzen Pause. Aus persönlichen Gründen habe ich ein paar Tage ausgesetzt und mir Ruhe geschenkt, zum Durchatmen. Musste sein, das Leben hatte eine Kurve nach unten im Drehbuch stehen. Ich bin dennoch zuversichtlich, dass ich mein geplantes Ziel, nämlich bis Ende November 10 schräge G´schichten mit jeweils 2 Zeichnungen zu veröffentlichen, schaffen werden.
Hier also Nr. 6 und ich muss vorwarnen: die ersten fünf waren heiter bis wolkig, diese hier ist zartbitter bis edelherb. Leben eben. Und wie alle anderen Geschichten: NICHT frei erfunden, sondern so erlebt. Denn das Leben schreibt Geschichten ins Drehbuch, da muss die Fantasie nochmal die Schulbank drücken.
Alle Skizzen, von anderen und von mir, findet ihr auch auf Instagram, Facebook oder Twitter unter dem Hashtag #30SkizzenimNovember, meiner ist zusätzlich #schrägeGschichten.
30 Skizzen = 10 schräge Geschichten – Nr. 6:
Der rostige Heiligenschein
Mir ist übel. Nicht wegen der Schmerzen und Krämpfe im Bauch. Nicht wegen der Medikamente. Auch nicht wegen dem Essen, um das ich aktuell freiwillig und verordnet einen großen Bogen mache, weil mein Darm mir spontan die Mitarbeit aufgekündigt hat und in Stillstand getreten ist.
Mir ist übel vor mangelnder Sympathie. Besser: mir ist schlecht, weil ich zugeschwafelt werde und die Senderin der Botschaften nicht unbedingt auf Platz 1 meiner Sympathieliste rangiert.
Es gibt Liebe auf den ersten Blick. Oder zumindest Sympathie. Also das man sich sieht und denkt, ok, derdiedas ist nett und man könnte ein paar Worte oder mehr austauschen mitsammen.
Und dann gibt es das genaue Gegenteil davon und man hofft, dass der Moment der Begegnung schnell vorüber ist. In meinem akuten Fall stehen die Chancen dafür leider schlecht.
Die alte Dame, die in „mein“ Zimmer eingezogen ist, wäre rein optisch reizend. Putzig, gepflegt, korpulent bis üppig, mit den klassichen Alte-Dame-Wasserwellen am Kopf, die durch den Spitalsaufenthalt schon etwas derangiert sind. Arm ist sie auch, sehr arm. Weil leidend, sehr leidend. Die geplante Tumor-Punktion ist schief gegangen, der Darm wurde perforiert. Tragisch, so etwas kommt leider manchmal vor. Man bekommt es als mögliches Risiko zur Unterschrift vorgelegt und hofft, dass dieses Übel an einem vorübergeht. Bei der alten Dame ist es eingetreten und nun leiden wir. Sie, ich und der Rest der Station.
Sie muss ein paar Tage über die Sonde ernährt werden. Die Heilung schreitet gut voran, Schmerzen hat sie keine mehr, eine weitere Punktion wäre möglich, damit man endlich feststellt, was denn das für ein Tumor ist. Aber sie hat schon beschlossen „das“ nicht mehr machen zu lassen, denn sie wird nun sterben. Hat sie beschlossen.
Was sie mir unaufgefordert munter erzählt, inklusive ihrer Lebensgeschichte, ohne Punkt und Komma. „Stream of Consciousness“ nennt man das, wenn man so schreibt und es ist eine literarische Erzähltechnik. Spannend und leicht anstrengend zu lesen.
Unerträglich und mühsam aber, wenn man es um die Ohren gesagt bekommt und zu wenig Mut oder Kraft hat, um sich dagegen zu wehren.
Wobei nicht explizit die Lebensgeschichte mühsam ist oder das Drama der misslungenen OP. Es ist die alte Dame an sich. Ihr Leben war so toll und so schön, sagt sie, so voller Glück und schöner Momente und sie hat ja auch immer mit vielen wichtigen – nein: mit den HÖCHSTEN! – und besten Menschen zu tun gehabt, für diese arbeiten dürfen, hatte Kontakte in die HÖCHSTEN und besten Kreise und das war oberhammeraffengeil (mein Wort, nicht ihres. NIEMALS ihres.). Sie war so gesegnet, so glücklich, immer am guten Weg und darum geht sie nun gern ins Sterben, auch in den Tod, wenns sein muss..
Weil operieren lässt sie sich niemals nimmer nicht mehr. Sieht man ja, wohin das führt. Nur Qual und ihr Essen muss sie nun über den Schlauch konsumieren. ÜBER EINEN SCHLAUCH! Dass es sowas gibt! Das man das kann! Essen über die Infusion! Mit einer Maschine! Einen ganzen Beutel für zwei Tage! Und trinken darf sie nur ein paar Schlucke Wasser, für die Tabletten. Unglaublich. Und den ganzen Infusionsständer muss sie dauernd mitschleppen, wenn sie wohin geht. Sogar aufs Klo. Und in die Dusche.
Aber duschen kann sie ja nicht, denn das darf ja nicht nass werden. Was für ein Elend. Das ist gegen die Natur, so soll man nicht Essen müssen. Oder duschen. Also nicht-duschen.
Und ob ich weiß, wie man den Fernseher aufdreht. Weil nachmittags um 4 läuft ihre Lieblingsserie und am Abend die Nachrichten. Das wäre schön. Das würde sie gern sehen.
Ich bin platt, paralysiert und habe Ohrensausen. Das Wochenende habe ich – unfassbares Glück! – allein in diesem Zimmer verbracht. Die Geräusche des Krankenhauses gedämpft wahrgenommen, und in einem heilsamen Ruhezustand mit meinen Magenkoliken verhandeln können. Der Redeschwall, der seit dem Eintreffen der alten Dame über mich hereingebrochen ist, ist mir schlicht zu viel. Soviel Information auf einmal – ich bin noch dabei die erhaltenen Sätze von vor 5 Minuten zu verarbeiten und unterdrücke tapfer den Reflex, auf ihre flotten Aussagen betreff Sterben und aus-dem-Schlauchessen zu antworten … und werde in einem fort mit Worten weiter zugeschüttet. Langsam wird die Luft knapp. Meine Nerven wimmern panisch.
Ich will nicht reden, ich will Ruhe. Mir tut einfach alles weh, der Bauch, die Muskeln, der Kopf … aber vor allem die Ohren, die langsam zu klingeln beginnen und das Alarmsignal der Überlastung weitergeben, weil zu viel und zu laut. Denn sie ist schwerhörig und trägt ihre Rede mit Amphietheaterstimme vor. Man kann sie auch im Nachbarzimmer noch gut hören.
Sie wurde übersiedelt, von einem 6er-Zimmer hierher, in „mein“ 2er-Zimmer. Aber glücklich ist sie nicht darüber, nein, ganz und gar nicht. Das Zimmer drüben war schön, groß, mit einem Fernseher. Aber es ging ihr nicht gut und darum hat sie die Serie nicht vermisst. Aber hier wäre das doch sicher möglich. Wo sie doch auch gegen ihren Willen hierher transferiert wurde, aus dem schönen Zimmer weg musste. Das war so toll dort, aber dann hat man ihnen die dicke Negerfrau hineingelegt. Wegen der musste sie raus aus dem Zimmer. Wegen der ist sie nun hier. Das ging einfach nicht mehr. Leider. Die dicke Negerfrau hat sie so gestört. Unglaublich war das mit der. Also weniger mit ihr, als mit ihrer Familie. Alle da. ALLE! Jeden Tag! Also die 2 Tage, seit sie eingeliefert wurde. Also seid gestern, um es genau zu sagen. Und auf die Frau eingeredet haben sie. ANDAUERND. Die ganze dunkle Familie. Einfach unglaublich. Dauernd hat wer geredet. Unerträglich war das. Da kam man ja selber kaum zu Wort.
Und was ist nun mit dem TV? Ob ich wüßte, wie man das einschaltet? Und ob ich was dagegen hätte, wenn sie ihre Serie sehen könnte, wo sie schon mal da ist und da wenigstens ein TV ist, in diesem Zimmer.
Mein inneres Helfer-Ich war mental schon am halben Weg zur Fernbedienung. Beim Wort „Negerfrau“ ist es stehen geblieben, hat umgedreht und schaut nun beim Fenster hinaus.
Da ist eine verzweifelte Wespe, die flüchten will.
Ich kann sie verstehen.
Während mein Helfer-Ich mein Ich-Ich motiviert aufzustehen, um die Wespe beim Fenster rauszulassen – „Erschlagens das grausliche Viech, dann hamma Ruh. Am Ende werden ´s noch gestochen!“ – erkläre ich sehr bedauernd, dass ich selbst keinen Fernseher mehr habe, weil zuviel Stress, Reizüberflutung, nur Schmarrn und bad News zu sehen und Ruhe brauch ich auch. Aber vor allem habe ich leider keine Ahnung, wie man das Gerät hier einschaltet. Und sorry, aber ich muss jetzt ganz schnell aufs Klo.
Den Rückweg zögere ich hinaus. Drehe eine Runde durch die Station, gehe gedankenlos den Gang hinauf, zu den großen 6er-Zimmern. Wo eine betroffene Oberärztin den Angehörigen der alten, südländischen Dame, die vor kurzem eingetroffen ist, erklärt, dass man nur noch die Schmerzen stillen könne, sie umsorgen kann und „es“ vermutlich nicht mehr lange dauern wird. Man werde versuchen, ein ruhiges Zimmer für sie zu finden.
Tränen fließen, Hände werden gerungen, umklammern andere. Eine Familie im Ausnahmezustand.
Mir ist schlecht. Richtig schlecht. Ich spüre Tränen und Magensäure aufsteigen und weiß nicht, ob aus Wut oder wegen der greifbaren Trauer.
Es tut weh hinzusehen. Es tut weh es hören zu müssen und lässt sich doch nicht vermeiden. Der Gang ist zu eng hier, ich bin schon zu nah und habe zu spät gemerkt, was das für ein Gespräch ist. Eine junge Frau blickt zu mir herüber. Tränen im Gesicht, Tränen in den Augen. Unser Blicke treffen sich und ich nicke ihr leicht zu. Sie nickt zurück, hat die Botschaft verstanden und sich bedankt. Ohne Worte.
Im Zimmer retour fürchte ich eine weitere Redelawine. Aber die Krankenhaus-Seelsorgerin ist da und bekommt die Lebensgeschichte frisch serviert. Im ausführlichen Modus, mit allen Unterkapiteln und es werden nun auch Namen genannt. Also NAMEN! Von den HÖCHSTEN! Die Seelsorgerin ist eine bessere Zuhörerin als ich, gibt an passenden Stellen bedauernde Seufzer und mitfühlende Worte von sich, wofür ich sie rückhaltlos bewundere.
Ob ein Priester gewünscht wird, ist eine Frage, die sie in einer Redepause stellen kann. Und ob man der armen Frau für die Zeit, die sie im Krankenhaus sein müsse, täglich die Kommunion bringen solle. Ein Strahlen geht über das Gesicht der alten Dame, ein Glückslaut entfleucht und sie bedankt sie überschwenglich. Denn nun geht es ja ans Sterben, das muss so sein und sie hat keine Angst, denn das Leben war so gut zu ihr, hat ihr so viel gegeben. Sie geht mit leichtem Schritt und fröhlich. Und nun auch mit priesterlichem Segen und der heiligen Kommunion, täglich frisch serviert.
Mein Sarkasmus brennt mit Magensäure in meinem Hals um die Wette. Ich würge beide hinunter, ebenso den Spruch „So schnell stirbt es sich nicht„. Sie würde es nicht verstehen, vermutlich nicht mal hören. Hier steht kein Tod am Krankenbett, auch nicht im heiligen Schatten. Er ist am Ende des Ganges beschäftigt, im großen, „schönen“ 6er-Zimmer, wo eine Familie weinend die Hände ringt.
Ich nehme meine Kopfhörer raus und suche im Internet ein bestimmtes Lied, dass ich in Gedanken seit ein paar Minuten in Gedanken immer wieder höre – rostige Flügel. Alt und absolut „not my kind of town“, aber ich brauch das jetzt.
Und während die ersten Klänge meinen Gehörgang gegen den Redeschwall der alten Dame abdichten, überlege ich, ob auch ein Heiligenschein Rost ansetzen kann und was es braucht, damit er das tut.