HALLELUJA! Die 10. Geschichte ist pünktlich fertig, ich habe meine Verspätung aufgeholt und damit habe ich mein persönliches November-Goal erreicht: 10 Geschichten, mit jeweils 2 Zeichnungen – macht 30 Skizzen (weil man ja auch mit Worten Bilder entstehen lassen kann) und das war das Ziel der #30SkizzenimNovember, der Zeichen-Challenge der Freiraumfrau.
Ich freu mich und bin nun doch ein bisschen sehr stolz auf mich. Auch wenn diese Geschichte eigentlich eine traurige ist. Vor allem weil eine wichtige Frage nicht geklärt werden konnte.
Alle Skizzen, von anderen und von mir, findet ihr auch auf Instagram, Facebook oder Twitter unter dem Hashtag #30SkizzenimNovember, meiner ist zusätzlich #schrägeGschichten.
30 Skizzen = 10 schräge Geschichten – Nr. 10:
Ungeklärte Fragen
„Also das hat mich noch niemand gefragt …“
Meine Ärztin starrt mich irritiert an. Wenn es eine Steigerung für fassungslose Verwunderung gibt: Sie sitzt mir gegenüber. Und sie ist sprachlos. Zumindest kurzfristig.
„Ich gestehe, ich habe keine Ahnung …“ setzt sie fort und beginnt sichtlich zu grübeln.
Ich gebe zu, meine Frage war ungewöhnlich. Aber doch auch verständlich. Die liebe Frau Doktor hat mir ein paar Wochen zuvor einen Teil meines Dickdarms entfernt, aus wichtigen, crohnischen Gründen (eine andere Geschichte). Die OP war erfolgreich, mir ging es schlagartig besser, die Wundheilung schritt heiter voran und heute war Kontrolltermin. Zu dem ich meine, mir wichtige Frage mitgebrachte habe: Wo denn der herausgeschnippelte Teil gelandet ist?
Wir sitzen uns gegenüber und ich merke, dass ich mit meiner Frage chirurgisches Neuland betreten habe. Die Antwort ist noch nicht gefunden, es war noch kein Thema für irgendwen – frei nach dem Motto: aus dem Bauch, aus dem Sinn.
Der Hintergrund für mein Wissen-Wollen ist intim-spiritueller Natur. Was, wenn die Sache mit dem jüngsten Tag irgendwann doch akut wird und man dann mit seinen kompletten Körperteilen antreten muss, um das zu tun, was an diesem Tag auf der Tagesordnung steht?
Ich halte mich nicht für besonders religiös (weil ich noch keine Religion gefunden habe, bei der meine Vorstellungen passend wären), aber doch ein wenig oder mehr spirituell und irgendwie ist da auch ein Ordnungstrieb in mir: Ich würde gerne wissen, wo meine Körperteile landen. Auch wenn der jüngste Tag nur ein nischenreligiöser Marketinggag sein sollte.
Es hat etwas von Selbstfürsorge. Immerhin sind mein Darmteilchen und ich lange Jahrzehnte durch dick und dünn gegangen (Schlechter Wortwitz, ich weiß. Und Achtung, es geht so weiter:). Wir haben gute und schlechte Zeiten gehabt und am crohnischen Schlachtfeld ist mein Darmteilchen irgendwann zu einem Kollateralschaden mutiert, was eine Trennung notwendig gemacht hat – die Differenzen zwischen ihm und mir waren unüberwindbar. Im wahrsten Sinn des Wortes: Es hatte sich eine Stenose, eine Engstelle gebildet. Der Tunnel war immer enger geworden und damit ich nicht vorzeitig ins Licht am Ende einer anderen Röhre gehe, wurde schnippisch gekontert.
Doch ich hätte mich im Anschluss gerne irgendwie von ihm verabschiedet und vielleicht dann und wann einen Besuch gemacht, ein paar Blümchen an die Stelle gelegt, wo er-es nun liegt und über die guten Zeiten und den damit verbundenen Nachtisch geredet.
Nur wo?
Meine Chirurgin meinte, dass er nach der Op in die Pathologie gebracht wurde und danach … entzieht sich der weitere Verlauf ihrer Kenntnis.
„Aber ich werde mich erkundigen und nun werfen wir vielleicht einen Blick auf die Narbe, denn wegen dem sind Sie ja schlussendlich hier.“
In meinem Inneren bin ich ja schüchtern und erkenne schnell, wenn jemand einen finalen Themenwechsel vorschlagt und keine Umkehr zum ursprünglichen Gegenstand der Diskussion wünscht. Das Thema ist in mehrfacher Hinsicht vom Tisch.
Allein daheim grüble ich weiter. Denn dieses Problem der verlorenen, in der Welt verstreuten Körperteile betrifft ja auch andere, vor und nach mir. Zum Beispiel die Vielzahl der Heiligen, deren Knochen für diverse Reliquien verwendet wurden. Manche kommen in Summe gesehen zwar auf drei Hände und 24 Finger, andere vermissen dafür nur ein Zungenbein und so gut wie alle müssten ihre Knöchelchen erst aus irgendwelchen Samtverzierungen und Schreinen lösen, eventuelle Goldlegierungen abschaben, ehe sie ans finale Zusammenpuzzeln gehen könnten.
Das sind wahrlich keine schönen Aussichten und nicht nur deswegen vermute ich, dass es wahrscheinlich egal sein wird, ob man komplett auf den Tag des jüngsten Gerichts wartet oder mit deutlich weniger als 100% seiner physischen Körperteile auf die andere Seite wechselt. Aber ich wäre mir gern sicher.
„Und was ist mit Zehennägeln? Die wirfst du ja auch einfach in den Müll und denkst nicht darüber nach. Und die Haare, die man verliert im Lauf der Zeit oder beim Friseur lässt?„, fragt eine Freundin rebellisch. „Die sind auch für immer weg, keiner weint ihnen nach und es ist egal, wo sie sind. Mach dir nicht soviele Gedanken. Abgesehen davon hat er ohnehin nur Probleme gemacht, die letzten Jahre. Nix als Qual und Bauchweh, kein Verlass auf den Mistkerl, ganz typisch auch irgendwie. Hatte nur eine einzige Aufgabe und die hat er vermasselt. Lag da nur rum und meckerte, wenn das Essen nicht mürbe genug für ihn war. Dann war er ewig und drei Tage beleidigt, bis man zu Kreuze kroch, weil man diesen Zustand nimmer aushielt ...“
Die Rede ginge noch weiter. Aber ich habe den Verdacht, dass sie mitten im Satz das Thema gewechselt hat – sie wurde vor kurzem geschieden. Als ich schüchtern frage, ob sie nun von meinem Darm oder ihrem Ex spricht, grummelt sie und meint finster „... dein Darm oder mein Ex – vollkommen egal, Arsch ist Arsch.“
Was wiederum ein Wortspiel mit besonderer Finesse ist.
Ich habe allerdings bessere Gefühle für mein Dickdarmteilchen, als sie oder irgendjemand anderer für ihre schlechtere Hälfte und protestiere. Immerhin war der Grund meiner Trennung krankheitsbedingt. Aber ich merke, dass ich auch hier keine spirituelle Hilfe bekomme und in stillschweigendem Einvernehmen begraben wir beides bei einer Tasse Tee – ich meine Gedanken rund um meinen Bauchteil. Sie ihren Hass auf den, dessen Namen nicht mehr genannt werden darf. Zumindest vorübergehend.
Denn die Frage lässt mir keine Ruh. Mein Bauch ist gut geheilt, ich habe wieder Appetit, kann alles essen, ohne Krämpfe und vor allem ohne Angst. Und das verdanke ich der operativen Trennung. Wofür ich meinem Bauchbewohner danken möchte. Und ich hätte auch gern, dass ein ehemaliger Körperteil meinereiner nicht in einem kalten Tank auf einer Pathologie darben muss.
„Also ich vermute mal, dass man das dann verbrennt.„, meint meine Gastroenterologin, die ich ein paar Tage darauf mit dieser Frage belästige. „Aber sicher bin ich mir nicht. Belastet es Sie sehr, nicht zu wissen, wo er ist?“
Ja und Nein.
Ich weiß es nicht.
Es ist eine Phantomemotion. Das ist wie der Phantomschmerz, nur emotional und mehr in der Herzgegend. Der Ordnungstrieb in mir, der auf kontrollfreakige Weise gerne immer wissen will, wo alles ist, besteht aus organisatorischer Sicht auf einer Antwort.
Mein emotionales Ich widerum hätte gern eine kleine, intime Zeremonie abgehalten, mit einem kleinen Sarg, einer netten Rede und ja, auch ein paar Tränchen. Denn so ein Dickdarm wächst weder nach, noch auf Bäumen und er ist einzigartig. Also war.
Und mein Kopf-Ich fragt mich die ganze Zeit, ob ich noch alle Tassen in der Schublade habe, weil es einfach nur dämlich ist, wichtige Hirnkapazität mit einer so blöden Frage zu belasten.
Weg ist weg, meint es, und schwingt damit auf einer Linie mit meiner frisch-be-Ex-ten Freundin und dem stillschweigenden Rest derer, die ich mit meiner Frage gequält habe.
Worüber das Revolutions-Ich erwacht und meint, dass es ihm zwar auch da vorbei geht, wo man normalerweise drauf sitzt, aber soooo geht das nun dann doch nicht, dass sich keiner betroffen fühlt und niemand etwas weiß und mich vor allem keiner ernst nimmt.
Während mein inneres Team eine Mischung aus Klausurtagung und Soko bildet, versuch ich im Außen Nonchalance zu üben und verkneife mir die unheimliche Bauchfrage, die bei allen nur Befremden auslöst. Meine Erfahrung meint, dass es sich wie mit allen Dingen auch hier so verhalten wird, dass der interne Arbeitskreis meinereiner irgendwann seine Sitzungen einstellt, die Frage ungeklärt und ewig unbeantwortet bleiben wird, die Welt sich dennoch weiter dreht und die Phantomemotionen verblassen werden.
Dennoch, dann und wann, frage ich mich noch immer, ob es da einen kleinen Friedhof der Körperteile gibt. Wo sie ihren Frieden finden und ihren ehemaligen Trägern für die Trennung verziehen haben. Wenn ich merke, dass es mich traurig macht, dass der Verbleib meines Dickdarmteilchens so ganz und gar ungeklärt ist und niemanden interessiert, dann tröstet mich diese Vorstellung.
Und zugleich frage ich mich, ob mir nicht im Anschluss an die Narkose, im halbwachen Zustand, heftig den Kopf gestoßen habe, weil ich solche Gedanken habe und über solche Dinge ewig grüble. Was die logischste Erklärung für viele Dinge ist, über die ich mir dann und wann den Kopf zerbreche.